Tradition

Das retrospektive und relationale Konstrukt "Tradition" ist im religiösen Feld und der Religionswissenschaft gerade im Zusammenhang mit der Identifizierbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Übersetzbarkeit, Vergleichbarkeit etc. von Religionen zentral. Das akademische Jahr 2014-2015 wurde deshalb dem Transversalthema "Tradition" gewidmet. Die Forschungsprojekte der KHK Fellows nahmen in Bezug auf dieses Thema besonders die Aspekte der Begegnung, der begrifflichen Konstruktion und geschichtlichen Rekonstruktion, des gegenseitigen Austauschs, der Bildung und Umformung religiöser Traditionen in den Blick. Systematische Perspektiven wurden ebenso unternommen wie vergleichende Fallstudien.

Zeitliche Dimension

Das offensichtliche Kriterium religiöser Tradition ist die zeitliche Dimension; Tradition kann als ein Modus religiöser Überzeugung und religiöser Praxis verstanden werden, der ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt und reproduziert. Die zeitlichen Rahmen sowie der exakte Beginn von religiösen Traditionen können entweder relevant oder irrelevant für ihre Ausübung sein (illo tempore). Traditionen tendieren jedoch dazu, die Dauer ihrer Existenz unbestimmt zu lassen und ihren eigenen Entstehungszeitpunkt zu verschleiern (ihn im gleichen Moment aber auch zu glorifizieren). So wird ein Startpunkt bestimmt, den es oftmals gar nicht gibt, sodass religiöse Traditionen in ihrem Wesen  von Mythen abhängen. Ebenso sind religiöse Traditionen nicht durch ihr eigenes Ende strukturiert – zumindest spielt bei der Ausübung das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit keine Rolle (aus der Außenperspektive ist es natürlich so, dass Traditionen ‚kommen und gehen‘). Eine bestehende Überzeugung oder Praxis ‚Tradition‘ zu nennen ist typischerweise ein Plädoyer zu deren Erhaltung (etwas ist eine Tradition) oder eine Reaktion auf solche Plädoyers (etwas ist nur eine Tradition).

Räumliche Dimension

Der Akt des Weitergebens und das, was weitergegeben wird (das traditum), werden in der religiösen Praxis konkret und gegenwärtig gehalten. Tradition ist ein räumlicher Prozess der Überlieferung von imaginativem Material, der sich auf kollektive Weisheit oder nicht-institutionalisierte Folklore stützt, und auf kreative Weise strategisch in direkten Interaktionen innerhalb von Gruppen inszeniert wird (Bonner 2011: 41). Die Praktiken religiöser Traditionen sind räumlich gebunden, gleichzeitig produzieren religiöse Traditionen physische und semantische Räume. Die zeitlich-räumliche Einschränkung religiöser Traditionen macht sie angreifbar in Bezug auf Dislokation, De-Kontextualisierung und Globalisierung. Die ist dabei aber nicht auf physische Territorien beschränkt, sondern kann imaginative und virtuelle Räume einschließen.

Performative Dimension

Zusätzlich zur räumlichen Dimension erhalten religiöse Traditionen Autorität und selbstverständlichen Status durch die Performanz besagter Tradition; performative Äußerungen sind selbstreferentiell und konstitutiv, indem sie die soziale Realität hervorbringen, auf die sie sich beziehen (Fischer-Lichte 2008: 24). Performanz erschafft die oszillierende Einheit zwischen Unterschieden, bringt im Fall von Tradition also Einheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Absenz und Präsenz, Subjekt (tradent) und Objekt (traditum) hervor. Oftmals nimmt die Performanz religiöser Tradition die Form eines Rituals an, wobei sich Performanz und Ritual gegenseitig verstärken: Die Form eines Rituals ist parental durch Tradition bestimmt (Berne 1964: 36). Gleichzeitig basiert Performanz von Tradition auf ritueller Ausübung.

Soziale Dimension

Eine religiöse Tradition liegt nicht im statu nascendi begründet, sondern konstituiert sich in ihrem Einfluss. Religiöse Traditionen können nicht bewusst geschaffen werden, sind vielmehr Teil einer Nachfolge – einer Kette sozusagen – in der Anhänger im Prozess des Sendens und Empfangs neue Verknüpfungen zur Traditionskette hinzufügen. Es kann zwar vorkommen, dass gewissen Handlungen mit der Intention unternommen werden, eine Tradition zu etablieren, aber der Erfolg dieser Bemühung wird erst mit der Fortführung der Tradition als spezielle Form des Geschenkeaustauschs bewiesen (Engler 2005).

Semantische Dimension

Gegenwärtige und zukünftige Praktiken einer religiösen Tradition werden durch einen Bezug zur Vergangenheit legitimiert. Nichts ist grundsätzlich wertvoll, und es besteht kein Grund per se, irgendetwas zu erhalten. Eine Tradition wird hingegen bewahrt und weitergetragen, da sie in der Vergangenheit als würdig angesehen wurde – eben, da es sich um eine Tradition handelt. Eine Tradition als solche zu benennen, gibt dem traditum eine besondere Würde. Das traditum ist sozial konstruiert, wird aber als gegeben angesehen und wird als unbestritten externalisiert. Dementsprechend können Traditionen jegliche Kontroverse verschleiern; sie lösen den fundamentalen Wiederspruch, das zu rechtfertigen, was nicht gerechtfertigt werden kann.

Mediale Dimension

Die mediale Dimension ist mit der räumlichen eng verbunden, indem die Medien religiöser Traditionen das sichtbar und greifbarmachen, was normalerweise unsichtbar und immateriell ist: die Referenz der Religion. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass Medien Raum und Zeit überschreiten (Winkler 2004: 9). Für die Medien von Tradition im besonderen sollte hinzugesagt werden, dass diese eine Möglichkeit bilden, Zeit und Raum in einer besonderen Art und Weise zu erfahren. Und während Traditionen ‚ohne Ort‘ sein können, können sie mit Hilfe von Medien lokalisiert, geteilt, oder ‚migriert‘ werden (beispielsweise in Exil- oder Diaspora-Kontexten). Die Materialität von Tradition in Form von Medien sorgt für die räumliche Präsenz von Tradition und Religion.

Autoreferentielle Dimension

Akzeptanz einer religiösen Tradition kann nicht durch gegenseitigen Konsens oder eine Vereinbarung erreicht werden. Im Gegenteil ist eine religiöse Tradition von allein gültig. Nur durch eine Außenseiterperspektive, beispielsweise der Sozial- oder Geisteswissenschaften, offenbart sich jede Tradition als ein soziales Konstrukt. Innerhalb einer gelebten Tradition jedoch wird diese Möglichkeit verdeckt.

Annäherung an religiöse Tradition

Religiöse Tradition als ein Idealtypus (nach Max Weber) kann als jene religiösen Überzeugungen und Praktiken verstanden werden, die Legitimität erhalten durch

  1. Produktion und Reproduktion einer Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart
  2. die Möglichkeit konkreter Erfahrung durch die Verbindung zu sozialem Raum
  3. ständige Wiederholung (meistens durch Rituale)
  4. die Produktion von Zugehörigkeit durch inter-generationelles Senden und Empfangen
  5. die Externalisierung dessen, was als selbstverständlich weitergereicht wird
  6. die Benutzung von Medien, die religiöse Transzendenz in greifbare Immanenz überführen
  7. die selbst-referentielle Produktion und Entwicklung und die Erlangung von Autorität durch Performanz.