Fokusgruppe "Rituale"
Die Fokusgruppe "Rituale" bietet einen Rahmen, in dem die Rolle der Sinne im religiösen Ritual untersucht werden kann, wobei auch die Frage gestellt wird, wie gerade die sinnlichen Aspekte des religiösen Rituals bei der inter- und intrareligiösen Begegnung, Adaption und Auseinandersetzung zum Tragen kommen. In der religionswissenschaftlichen Perspektive können Rituale als die formalisierte Interaktion des Körpers mit dem Göttlichen1 beschrieben werden.
Das Bestreben ist hier, durch die formalisierten körperlichen Handlungen, durch den Gebrauch von materiellen Objekten sowie durch die Konstruktion von Räumen, das Göttliche mit der materiellen Welt und die menschliche Interaktion mit jener Welt zu verbinden. Konkreter ausgedrückt bezieht man sich mit einer "formalisierten Interaktion des Körpers mit dem Göttlichen" und "formalisierten körperlichen Handlungen" auf körperliche Verhaltensweisen oder Veränderungen des Körpers, wie z. B. das Fasten, oder das Essen bestimmter Nahrungsmittel unter besonderen Voraussetzungen. Aber auch ein konkreter Ort, das Tragen spezieller Kleidungsstücke, sowie die Veränderung des Aussehens spielen eine Rolle, z. B. durch die Vernarbung oder Bemalung des Körpers. Des Weiteren sind all jene Handlungen, wie das Geräusche- bzw. Musikmachen sowie das Tanzen, ebenfalls dazu bestimmt, die Aufmerksamkeit des Göttlichen zu erregen - sei es zum Lobpreis oder zum Bittgesuch. Mit der Einbeziehung des menschlichen Körpers beinhaltet das Ritual normalerweise auch die Verwendung anderer materieller Gegenstände, sowie unter Umständen die Verwendung von Tieren (Weihrauch, Tieropfer, Essensgaben). Wichtig ist dabei die Herstellung eines Raumes, der als heilig gilt oder zumindest dazu dient, das Göttliche in irgendeiner Weise zu beschwören. Die Erschaffung eines heiligen Ortes, eines sakralen Raumes, der an ein Ritual geknüpft ist, kann z. B. durch die Errichtung eines Gebäudes, also eines Tempels, einer Kirche, einer Synagoge, einer Mosche usw., erlangt werden. Erst durch rituelle Handlungen erhält der spezifische „Raum“ seine sakrale Funktion. Eine Prozession um eine Stadt oder um ein Feld als Fürbitte zum Schutz vor Krieg oder für gute Ernte kann (aber muss nicht) die entsprechenden Stadtgrenzen oder Felder als heilig markieren, aber der Raum bleibt nichtsdestotrotz wichtig für das Ritual, weil die Bewegung um ihn herum als wesentlich für die Wirksamkeit des Rituals und der göttlichen Intervention angesehen wird. Sehr oft, wenn auch nicht immer, diktiert der Kalender, wann eine Reihe von Handlungen an einem bestimmten Ort als heilig oder wirksam angesehen werden kann. Wenn man die Ritualforschung auf solchen Annahmen aufbaut, kann man leicht erkennen wie Ritual, Sinne und Religion sich überschneiden können. Dieser Aspekt wird in dem einjährigen Untersuchungszeitraum der Fokusgruppe thematisiert. In der Tat, bieten die vorherige Überlegungen lediglich eine beschreibende Definition, ohne etwa auf die Funktion oder Bedeutung von Ritualen einzugehen. Denn die Theorien hierzu sind zahlreich.2
Es ist nicht die Absicht der Fokusgruppe, a priori einen einzigen theoretischen Zugang zur Funktion des Rituals durchzusetzen. Aber bereits aus den vorangegangen Erörterungen sollte deutlich geworden sein, dass als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen der performative Aspekt des Rituals genommen wird und jene Beziehung, die eine Reihe von Wissenschaftler/innen hinsichtlich der Verbindung zwischen Spiel, Theater und (religiösem) Ritual einerseits und der verkörperten Natur des religiösen Rituals andererseits postuliert haben.3 Teil der Forschung der Fokusgruppe ist es, die Bedeutung religiöser Rituale eingehender zu analysieren, da sie die Sinneserfahrung der Menschen miteinbeziehen. Zum anderen geht es darum, zu verstehen, wie beide bei der Analyse religiöser Begegnungen verwendet werden können. Die religiöse Begegnung ist ein zentrales Anliegen bei der Untersuchung bestimmter Arten von religiösen Ritualen, z. B. die Pilgerfahrten.
Das Konzept der communitas von Victor und Edith Turner wurde als Linse für die Untersuchung gemeinsamer religiöser Praktiken, insbesondere gemeinsamer heiliger Stätten und Pilgerfahrten zu diesen, verwendet, angefochten und verfeinert.4 Dennoch gibt es Rituale außerhalb der Sphäre der Religion, sei es staatsbürgerliche Zeremonien, sei es im Sport, im familiären Kontext, beim Erwachsenwerden, als personalisierte Gewohnheitshandlungen zwischen zwei Individuen oder sogar innerhalb des Bereichs des individuellen, privaten Verhaltens. Derlei Phänomene haben seit Langem das Verständnis der Wissenschaft für das Wesen und die Bedeutung ritueller, religiöser oder anderer Rituale geprägt. Darüber hinaus sind die Grenzen zwischen religiösen Ritualen und anderen Arten von Ritualen oft verschwommen. Aber es sind gerade diese Grenzen zwischen normalerweise weltlichem „Spiel“ und Ritual, politischem und religiösem Ritual oder alltäglichen Bräuchen, Gastfreundschaft und rituellem Essen, die den Schnittpunkt von religiöser Begegnung, Ritual und sinnlicher Erfahrung am deutlichsten thematisieren. Fußball wurde in den letzten Jahren, sowohl als Instrument zur religiösen Annäherung, als auch zur Schaffung und Verstärkung religiöser Grenzen eingesetzt, insbesondere im Hinblick auf muslimische und nicht-muslimische Gemeinschaften. Damit werden Unterhaltung, Politik und Religion in ein "ritualähnliches" Verhalten verflochten. Das politische Drama „Moros y christianos“ wurde auf dem amerikanischen Doppelkontinent gleichzeitig zu einem religiösen Ritual, einem Werkzeug zur Vermittlung religiöser und politischer Ideologie und schließlich zu einem Werkzeug des indigenen Widerstands gegen die europäische Kolonisatoren und ihre Nachkommen.5 Auch hier wird es schwierig, religiöse Rituale von anderen Ritualen zu unterscheiden und zu entwirren.
Patricia Seed hat Zeremonien der Besessenheit im Kontext der frühneuzeitlichen Expansion untersucht. Bei den von ihr beschriebenen Ritualen, ging es einerseits sehr stark um die Abgrenzung von neugewonnenen politischen Territorien, andererseits brachten sie aber auch religiöse Zugehörigkeit und Dominanz zum Ausdruck.6 In ähnlicher Weise machen mittelalterliche und moderne Versuche, das religiösen "Geräusch" als integralen Bestandteil des rituellen Lebens einer Religionsgemeinschaft zu kontrollieren, dieses gleichzeitig religiös und politisch, während sie die mit der religiösen Praxis verbundenen Sinneserfahrungen einbeziehen oder einschränken.7 Kleidung und Essen mögen Teil des täglichen gesellschaftlichen Lebens sein, ohne offensichtlich religiös konnotiert zu sein. Im Kontext spezifischer religiöser Tabus oder Anforderungen, z. B. indem sich eine heilige Person oder ein/e religiöse/r Spezialist/in in einer bestimmten Art und Weise kleiden muss, können Konsum- und Schmückungsaktivitäten eine religiöse Bedeutung erlangen. Lebensmittelverbote und verschärfte Gesetze sind seit Langem als religiöse Demarkationslinien bekannt. Diese überschneiden sich mit Ritualen, wenn z. B. in der Antike ein Christ an einer nichtchristlichen Beerdigung neben Begräbnismahl teilnahm, an der möglicherweise römischen Göttern geopfert wurde, oder wenn Juden gezwungen wurden, sich während der christlichen Karwoche in einer bestimmten Weise zu kleiden, und dann ritualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Daher schlagen wir für die Forschung dieser Fokusgruppe vor, uns auf die folgenden Themenpunkte zu konzentrieren:
- die Schnittstelle von Politik, religiösem Ritual und den Sinnen in Prozessionen, Drama und Klang,
- die Schaffung und Abgrenzung eines ritualisierten Raumes durch Geruch, Musik und das Visuelle,
- die Konstruktion von Gemeinschaft und Gemeinschaftsgrenzen durch Rituale, die mit Essen und Tisch verbunden sind,
- die Beziehung zwischen den Sinnen, rituelle und ritualisierte 'Magie' im Kontext von Begegnung und inter- und intrareligiösen Beziehungen.
[1] Mit „göttlich“ ist jede Kraft gemeint, ob gut, böser oder neutral, die in irgendeiner Weise über die physische gelebte Realität hinausgeht, jedoch gleichzeitig sowohl Kraft als auch Willen/Intelligenz besitzt, um, wenn man sie überzeugt, in der Lage ist in die physische Welt einzugreifen.
[2] Vgl. Catherine Bell, Ritual Perspectives and Dimensions (Oxford University Press, 1997)
[3] Zu Religion, Ritual und Aufführung siehe zum Beispiel: Religion, Theater and Performance: Acts of Faith, Ed. Lance Gharavi (Routledge, 2012); Eli Rozik, The Roots of Theater: Rethinking Ritual and Other Theories of Origin (University of Iowa Press, 2007); Matt Tomlinson, Ritual Textuality: Pattern and Motion in Performance (Oxford University Press, 2004); Laurence Sullivan, “Sound and Senses: toward a hermeneutics of performance,” History of Religions 26/1 (1986)1-33; Victor Turner, From Ritual to Theater: The Human Seriousness of Play (Performing Arts Journal Publications, 1982); Johan Huizinga, Homo Ludens: a study of the play-element in culture, trans. R.F.C. Hull ( Routledge & K. Paul, 1949) ; for embodiment and ritual see, for example: Ritual, Performance and the Senses, ed. Michael Bull, Jon Mitchell (Bloomsbury Academic, 2015); Mateo Josep Lluis Dieste, Health and Ritual in Morocco: Conceptions of the Body and Healing Practices, (Brill, 2012); David Morgan, The Embodied Eye: Religious Visual Culture and the Social Life of Seeing (University of California Press, 2012); Caroline Walker Bynum, Christian Materiality: An Essay on Religion in Late Medieval Europe, (Zone Books, 2011); Catherine Bell, Ritual Theory, Ritual Practice (Oxford University Press, 1992)
[4]Vgl. Sharing Sacred Spaces in the Mediterranean: Christians, Muslims and Jews at Shrines and Sanctuaries, ed.Diongili Albera and Maria Couroucli (Indiana University Press, 2012); Muslims and Others in Sacred Space, ed. Margaret Cormack (Oxford/New York: Oxford University Press, 2012); Frank Korom, “Caste Politics, Ritual, Performance, and Local Religion in a Bengali Village: A Reassessment of Liminality and Communitas,” Acta Ethnographica Hungarica 47/3–4 (2002): 397–449; Selva Raj, “Transgressing Boundaries, Transcending Turner: The Pilgrimage Tradition at the Shrine of St. John de Britto,” Journal of Ritual Studies 16/1 (2002): 4–18; Contesting the Sacred: The Anthropology of Christian Pilgrimage, Ed. John Eade and Michael Sallnow (Urbana: University of Illinois Press, 2000); Victor Turner, “Death and the Dead in the Pilgrimage Process,” in Blazing the Trail Marks the Way in the Exploration of Symbols, ed. Edith Turner (Tuscon, University of Arizona Press1992), 29–47; Victor and Edith Turner, Image and Pilgrimage in Christian Culture (New York: Columbia University Press, 1978); V. Turner The Ritual Process: Structure and Anti-Structure (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1969).
[5] Max Harris, Aztecs, Moors and Christians: Festivals of Reconquest in Mexico and Spain (University of Texas, 2000)
[6] Patricia Seed, Ceremonies of Possession in Europe’s Conquest of the New World 1492-1640 (Cambridge University Press, 1995).
[7] Olivia Remie Constable “RegulatingReligious Noise: The Council of Vienne, the Mosque Call and Muslim Pilgrimage in the Late Medieval Mediterranean World,” Medieval Encounters ,16 (2010) 64-95; C. M. Woodgar, The Senses in Late Medieval England (Yale University Press, 2007) 69-74;Alain Corbin, Village bells: sound and meaning in the nineteenth-century French countryside, transl. Maurice Thom (Columbia University Press, 1998).