Fokusgruppe "Doktrinen"
Die wichtigste Forschungsfrage der Fokusgruppe “Doktrinen” lautet: Welche Rolle spielt Körperlichkeit bei der Erklärung metaphysischer Wahrheiten? Während die Grundüberzeugungen religiöser Lehren durch das Außer- oder Übersinnliche charakterisiert sind, kann das Metaphysische ganz offensichtlich nicht anders übertragen oder empfangen werden, als – zumindest im übertragenen Sinne – durch den Gebrauch der Sinne.
Dadurch ergibt sich ganz logischerweise, dass religiöse Doktrinen (Lehrmeinungen, Dogmen) auch die Sinne in der einen oder anderen Weise berücksichtigen müssen. Offenbar stärker Bedeutung ist die Tatsache beizumessen, dass die Sinne – und mit ihnen die Sinnlichkeit – stets eine Quelle nicht nur für die Freude sondern eben auch für das Leid sind. Soweit Religionen von sich behaupten, das menschliche Leid mindern zu können oder Wege anbieten, die zur (ewigen) Freude führen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Möglichkeiten der sinnlich erfahrbaren Freude und des sinnlich erfahrbaren Leidens gegenüber ihren eigenen Erlösungsangeboten und auch gegenüber ihren Strafenandrohungen zu thematisieren. Es existiert kaum ein religiöses Versprechen und kaum eine religiöse Strafe, die sich nicht – sei es positiv oder negativ – auf die menschliche Biologie bezieht.
Aus diesem Grund wird in der Forschungsgruppe von der Annahme ausgegangen, dass sowohl die sinnliche Natur der Erfahrung als auch das sinnliche Verlangen in der einen oder anderen Weise von religiösen Lehren/Doktrinen adressiert werden. Geht der Blickwinkel auf die Trennung zwischen Transzendenz/Immanenz erscheint Sinnlichkeit dann als ein Teil der immanenten Seite, wo sie dem außerweltlichen, transzendenten Bereich eine Erdung anbietet ohne die dieser keine Relevanz für das menschliche Leben hätte. Jedoch unterscheiden sich religiöse Lehren enorm in der Art und Weise wie sie Sinnlichkeit ansprechen:
- Es gibt eindeutig metaphorische/symbolische aber auch nichtmetaphorische/nichtsymbolische Bezüge zu sinnlich erfahrbaren Objekten (z. B. „das ist mein Leib/das bedeutet mein Leib“)
- Doktrinen können spezifische Sinne oder Sinnesorgane gegenüber anderen bevorzugen, z. B. mag das Auge wichtiger als das Ohr angesehen werden oder umgekehrt (‘Tian’ hört und sieht, aber er zeigt nur und spricht nicht). Auch können verschiedene Sinne tabuisiert werden (Bilderverbot, Stille, Bevorzugung bestimmter Arten von Klängen). Nicht alle Sinne mögen als geeignet angesehen werden, religiöse Wahrheiten im gleichen Maße zu vermitteln und nicht alle Sinne werden von Gottheiten/Götter u. Ä. angesprochen.
- Es kann vergeistigte oder weniger vergeistigte Bezüge zu den Sinnen geben (Unterschied zwischen Vergeistigung/Askese und orgiastischen Kulten).
Der Stellenwert, den Sinn und Sinnlichkeit innerhalb religiöser Doktrinen und Dogmen zugemessen wird (und somit Religionen entscheidend ausstattet) beeinflussen ihre Attraktivität – vermutlich mit unterschiedlichem Effekt auf verschiedene soziale Gruppen und Mentalitäten und damit auch auf die Geschichte ihrer Wechselbeziehungen und Konflikte.
Im ersten Schritt der Forschung wird verglichen, inwieweit in verschiedenen religiösen Traditionen, Sinne und Sinnlichkeit dogmatisch vereinnahmt werden. Um die verschiedenen restriktiven, entgegenkommenden bzw. offenen Haltungen von religiösen Traditionen gegenüber den Sinnen/der Sinnlichkeit beschreiben zu können, ist es unabdingbar eine Typologie zu erstellen. Besonders relevant für die Forschung am KHK sind hierfür jene Forschungsansätze, die bestimmen wie Sinne und Sinnlichkeit in einer Religion behandelt, von anderen übernommen oder für die gegenseitige Abgrenzung zwischen verschiedenen religiösen Traditionen benutzt wird. Hinzu zählen jene Ansätze, die religiöse Traditionen in Bezug auf sich verändernde kulturelle und gesellschaftliche Auffassungen und Bewertungen von Sinn/Sinnlichkeit thematisieren (siehe die Theologie des Körpers von Papst Johannes Paul II. oder die Unterschiede in der Bewertung von Homosexualität zwischen asiatischen und westlichen Buddhisten).