Herrscherhöfe des Mittelmeerraums als interreligiöse Begegnungsräume im Mittelalter
Kaum anderswo trafen seit archaischer Zeit unterschiedliche Religionen so unmittelbar aufeinander wie im Mittelmeerraum. Vor allem in diesem für die Geschichte und die Kulturen Europas und Vorderasiens gleichermaßen bedeutenden Kernraum fand die Begegnung zwischen Judentum, Christentum und Islam über Jahrhunderte hinweg statt. Dieses Binnenmeer trennte nicht nur, sondern war wie jede Grenzregion auch eine Nahtstelle, eine Übergangszone für Personen, Waren, Wissen und Kulte. Derartige Austauschprozesse verdichteten sich an den Herrscherhöfen des Mittelmeeres, denn dort wurde aus verschiedenen Gründen die geistige Auseinandersetzung mit anderen Religionen mit besonderer Intensität betrieben: Diplomatische Kontakte zwangen zur Kenntnis anderer Gepflogenheiten und zu Adaptionsprozessen hinsichtlich kommunikativer Prozeduren; wirtschaftliche Austauschprozesse waren für das Gedeihen der jeweiligen Herrschaften unabdingbar und gelangen nur auf der Grundlage akzeptierter Normen; schließlich war die Kenntnis der Anderen auch eine Voraussetzung für die religiöse Orientierung politischer Gebilde an den Glaubensgrenzen des Mittelmeerraums mit seinen wechselnden Mehrheits- und Minderheitenverhältnissen. Gerade die diversifizierten Bedingungen infolge politischer Expansionsprozesse ("Islamische Expansion", "europäische Expansion") steigerten die Bedeutung der mediterranen Herrscherhöfe. Es verwundert daher nicht, daß sich interreligiöse Expertise an den mediterranen Höfen verdichtete: in Kommunikationszentren wie Konstantinopel, Akkon, Kairo, Tunis, Granada, Barcelona, Toledo, Neapel, Venedig und Palermo flossen Informationen zusammen, hierhin reisten Vertreter andersgläubiger Potentaten, wirkten Dolmetscher, Diplomaten und Gelehrte als Kulturelle Vermittler ("Cultural Brokers"). Auffällig ist, daß sich die angedeuteten Adaptions- und Abgrenzungsprozesse zwischen den religiösen Traditionsgeflechten auf ungleichmäßigen Ebenen und in unterschiedlichen Dialogformen zutrugen. An den Höfen des Mittelmeers wurden ebenso interreligiöse Disputationen auf hohem theologischem Niveau ausgetragen wie die Rahmenbedingungen pragmatischen Umgangs mit religiösen Minderheiten juristisch geregelt. Das Projekt strebt an, diese unterschiedlichen Formen der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Religionen an Herrscherhöfen zu untersuchen.
Der mediterrane Herrscherhof eignet sich mit seinen mannigfachen Kommunikationsformen bestens dazu, innerhalb des Bezugsrahmens "Interreligiöse Diskurse und Terminologien" vergleichend mit ostasiatischen Herrschaftszentren untersucht zu werden. Auch für den Bezugsrahmen "Medien" ist der Herrscherhof ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand, denn an ihm war die Spannbreite der eingesetzten Bedeutungsträger besonders groß. Diese reicht von Schriften - normativen Texten, Literatur, Traktatwesen etc. - über die sich im höfischen Umfeld entfaltende Ikonographie bis zu Speisen und Kleidung, die ebenfalls über Adaptions- und Abgrenzungsprozesse Auskunft zu geben vermögen. Schließlich bildet der Herrscherhof eine bis in die jüngste Vergangenheit relevante Sozialform, die bislang nicht hinreichend aus der Perspektive der Religionsforschung und der Religionskontakte untersucht worden ist. Eines der Ziele des Projekts ist es, die Ansätze der auf West- und Mitteleuropa konzentrierten Residenzenforschung in mehrfacher Hinsicht aufzugreifen und zu erweitern: Zum einen dadurch, daß Wechselwirkungen zwischen ausgewählten christlichen und islamischen Herrscherhöfen des Mittelmeeraums ausgemacht sowie transkulturelle Phänomene der interreligiösen Begegnung an christlichen und islamischen Höfen untersucht werden sollen; zum anderen durch die Konzentration auf Fragen interreligiöser Kommunikation zwischen Disputation und Dialog, zwischen Kult und Alltag. Zugangsweisen und Ergebnisse der Hof- und Residenzenforschung können auf diese Weise auf andere Kulturräume übertragen werden und um eine religionsgeschichtliche Perspektive erweitert werden. Schließlich sollen durch die Öffnung zu anderen am Kolleg beteiligten Disziplinen Schnittmengen zu Forschungsbereichen anderer Bochumer Kollegiatinnen und Kollegiaten des Internationalen Kollegs für Geisteswissenschaftliche Forschung hergestellt und Tertia comparationis europäischer und asiatischer Kulturen aufgezeigt werden.