Themenfeld "Konstitution"

Die Arbeit im Themenfeld 1 befasste sich mit der Konstitution religiöser Felder und der Formation der großen religiösen Traditionsgeflechte. Wie verdichten sich religiöse Bezugssysteme zu stabilen Größen im religiösen Feld, die a) die durch demarkative Selbstzuschreibungen kollektive Identitäten prägen und b) lokal oder regional nicht begrenzt sind und sich durch eine anschließende Phase der Expansion auszeichnen?

Die zentrale Frage war, ob es in komparativer Hinsicht vergleichbare Faktoren in den Konstitutionsphasen von Religionen gibt, die mit den Bedingungen, Formen und Wirkungen religiöser, religionsbezogener oder religionsrelevanter Kontakte zusammenhängen beziehungsweise auf diese einwirken? Deshalb wurden im Themenfeld "Konstitution" drei Schwerpunkte gebildet und nacheinander bearbeitet.

Fallstudien zu Zentralasien

Fallstudien zu Religionskontakten in und um Zentralasien standen in der ersten Phase im Vordergrund. Diese überwiegend von Visiting Research Fellows durchgeführten Forschungsprojekte untersuchten die Formationsphasen der sogenannten Weltreligionen und erwiesen den zentralasiatischen Raum als kulturell und religiös durchlässige Zone, die zahlreiche Kontakte zwischen Süd- und Ostasien und dem Mittelmeerraum ermöglichte. Zentralasien wurde als Austauschraum eines dichten, bisher unterschätzen Netzes von Kontakten begriffen, das die Formation der religiösen Traditionsgeflechte in Ost und West nachhaltig geprägt hat. Darüber hinaus lenkte die materiale Forschung die Aufmerksamkeit auf die Konzepte diffusion, adoption, absorption, demarcation, re-evaluation und densification, von denen sich vor allem der Begriff der Verdichtung für das Kolleg als besonders fruchtbar herausstellte.

Inklusion und Demarkation

Den thematischen Schwerpunkt der zweiten Phase des Themenfeldes bildete das Verhältnis von "Grenzziehung/Demarkation" einerseits und "Integration/Inklusion" andererseits, welche als aufeinander bezogene und sich gegenseitig beeinflussende Prozesse verstanden werden. Bei beiden handelt es sich um intra- wie interreligiöse Grundtypen von Dynamiken, die Kontakt voraussetzen und auf Kontakt reagieren und sowohl eine stabilisierende als auch eine destabilisierende Funktion haben können. Sie eignen sich besonders, um religiöse Formations- und Verdichtungsprozesse vergleichend zu analysieren. Da Prozesse der Integration und der Grenzziehung aber nicht mit dem Abschluss der Formationsphasen der jeweiligen religiösen Traditionsgeflechte enden, wurde diese Thematik in eine separate transversale Konzeptgruppe ausgelagert.

Für das Themenfeld 1 geblieben ist die Frage, inwieweit demarkative oder integrative Selbstzuschreibungen und damit im Zusammenhang stehende Religionskontakte stabilisierend oder destabilisierend für die Formation der Traditionsgeflechte sind. Als Zwischenstand erkennbar ist ein sich verfestigendes Verhältnis von Stabilisierung und Destabilisierung, das in die Dynamik der Expansion mündet. Ungeklärt ist bisher noch, ob das Spannungsverhältnis von Stabilisierung und Destabilisierung zu den auslösenden Faktoren für eine proaktive Expansion ("Mission") zu zählen ist.

Hellenismus - Spätantike - früher Islam

Im Zentrum der dritten Arbeitsphase stand die Bedeutung religiöser und kultureller Großkonstellationen bzw. umspannender Austauschräume für die Entwicklung der euro-asiatischen Religionsgeflechte. Der Hellenismus, die Spätantike und der frühe Islam sind verdichtete Konzeptualisierungen, die jeweils sehr heterogene kulturelle und religiöse Traditionen zusammenbinden und zugleich ein hohes Maß an Austauschprozessen implizieren. Die Aufarbeitung der Dynamiken innerhalb dieser heterogenen Systeme sollte das Verständnis von Formationsprozessen von Religionen- und religiösen Traditionen vertiefen.

Zunächst wurde die wechselseitige Beeinflussung der Religionen Zentral- und Ostasiens einerseits und der hellenistischen Traditionen andererseits betrachtet. Im Anschluss daran wurde der konkrete Einfluss hellenistischer Konzeptionen auf einzelne religiöse Traditionen untersucht, wobei insbesondere das Spannungsverhältnis von Einfluss und Rezeption hellenistischer Elemente in Asien interessierten. Ebenso wurde in umgekehrter Richtung nach kulturellem Transfer zentral- und südasiatischer Elemente auf den Hellenismus gefragt (Schwerpunkt WiSe 2011/2012).

Der Islam beginnt in einem dynamischen Umfeld von Städten und von Handelsnetzwerken, in denen Traditionen von alten Stammesreligionen, vom Judentum und vom Christentum bereits über eine längere Zeit miteinander interagiert haben. Besonders reizvoll ist, dass es dabei weder das "Judentum" noch "das Christentum" gibt, sondern Hybridisierungen, sektiererische Heterodoxien, "Synkretismen" (wie z.B. der Manichäismus, das babylonische Diasporajudentum, möglicherweise sogar frühe Buddhismen etc.) eine Rolle spielen. Scharfe Abgrenzungen tragen zur Profilbildung bei, doch zahlreiche Verflechtungen und Unschärfen gegenüber anderen Traditionen bleiben gleichzeitig noch lange bestehen (Schwerpunkt SoSe 2012, weiter verfolgt in WiSe 2012/2013).

Die Spätantike ist eine Zeit, in der sich verschiedene religiöse Traditionsgeflechte so verdichten, dass diese Formationen in der Folgezeit zu klar unterscheidbaren Religionen werden. Das gilt insbesondere für Judentum und Christentum im Rahmen einer von Austauschprozessen bestimmten demarkativen Formation, aber auch für den frühen Islam als aus spätantiken Austauschprozessen sich formierende Größe. Andere Religionen erleben in der Spätantike einen Traditionsabbruch oder werden mehr oder minder in die großen religiösen Traditionsgeflechte integriert. Erste Fallstudien zeigten, dass die Austauschprozesse, die zur demarkativen Formierung der großen religiösen Traditionsgeflechte führen, vergleichbar sind. Die verschiedenen Traditionen sind vielfältig untereinander verbunden,  haben jeweils in ihren Anfangsphasen eine hohe integrative Kraft und sind durch mannigfaltige Traditionen und Traditionselemente miteinander verbunden, die ausgetauscht und transferiert werden und je mit dem Anspruch auf eigene Originalität besetzt werden (Schwerpunkt WiSe 2012/2013).

Literatur