Gesellschaft ohne "Religion"?

Religionsbegriff und Religionspolitik in der japanischen Geschichte

Ausgehend von der "Erfindung" von "Religion" in der Mitte des 19. Jahrhunderts soll der Bedeutung des Fehlens eines modernen Begriffs für Religion sowohl für die Vorgeschichte (ca. 1550 bis 1870) als auch für die Zeit nach Etablierung des Begriffs (ca. 1870-1945) nachgegangen werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in Japan über den neuen Begriff "Religion" sowie weitere Begriffe aus dem Wortfeld des Religiösen, insbesondere über ihre Anwendbarkeit auf die Gegebenheiten in Japan, intensiv diskutiert worden. Wichtiger Auslöser dieser Debatten war die staatliche Religionspolitik, die verschiedentlich versucht hat, bestimmte Gruppierungen aus dem Gegenstandsbereich einer legitimen Definition von "Religion" auszuschließen (in den 1870er Jahren zunächst das Christentum, später Teile des Shintō, neue Religionen und "Aberglauben"). Es soll daher das Wechselspiel zwischen Religionspolitik und Begriffsbildung in den Blick genommen werden, d.h. von Interesse ist sowohl, wie Diskurse über Religion die Richtung politischer Entscheidungen mitbestimmten, als auch, wie Politik die Inhalte des Religionsdiskurses beeinflusste. Für diesen Zeitraum spielt auch der Religionskontakt eine wichtige Rolle, da die Konfrontation mit dem Christentum eine zentrale Rolle bei der Definition dessen spielte, was als Religion Geltung beanspruchen konnte. Für die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts stellt sich die Frage, wie denn die zahlreichen, aus heutiger Sicht üblicherweise als religiös bezeichneten Phänomene, begrifflich gefasst wurden. Es soll daher zunächst eine Analyse der zentralen Begriffe, die das Wissensfeld des Religiösen im frühneuzeitlichen Japan umspannen, erfolgen. In einem zweiten Schritt soll das Projekt untersuchen, in welchem Wechselverhältnis diese komplexen Begrifflichkeiten mit dem Rechtswesen und politischen Handeln seit dem 16. Jahrhundert standen. Auch hier kommt der Begegnung mit Europa (und das heißt v.a. dem Kontakt mit dem Christentum) bei der Formung religiösen Denkens und der Handlungsoptionen beim Umgang mit Religionsgruppen eine besondere Rolle zu.

Das Projekt fragt anhand des Beispiels Japan danach, welchen Mehrwert die Einführung des neuen Begriffs "Religion" dem epistemischen Feld in Ostasien überhaupt gebracht hat, ob er das Wissensgefüge und die sich daran anschließenden Kategorisierungen in Recht und Politik verändert hat. Anzeichen deuten darauf hin, dass "Religion" dort bis heute keine bedeutende Rolle in der Wissensordnung spielt. Der neue Begriff von Religion hat sich in Japan vorrangig wohl in zwei Sphären fest etablieren können: im modernen Rechtswesen, also in Fragen der Freiheit von Religionsausübung und des Verhältnisses von Staat und Religion, und als Kategorie, um die erst in der Moderne entstandenen sog. "neuen Religionen" fassen zu können. Noch weiter gedacht eröffnet sich vor dem Hintergrund der Frage, wie denn das Begriffsfeld des Religiösen vor der Moderne strukturiert war, auch das Problem, ob ein moderner Begriff wie "Religion" nicht vielleicht sogar den Griff auf die bestehenden Phänomene eher erschwert, bzw.. Zur Beantwortung dieser zentralen Frage, die wie kaum eine andere geeignet ist, auch die Besonderheit des christlich-europäischen Falls zu illuminieren, ist es notwendig, sowohl die gegenwärtige Situation, als auch die Phase des Umbruchs, während deren der neue Begriff eingeführt wurde, als auch schließlich die Begriffswelt der Vormoderne, mit der die westlichen Begriffe im 19. Jahrhundert in Verhandlung traten, einer genauen Untersuchung zu unterziehen.

Beteiligte Personen

HK

Prof. Dr. Hans Martin Krämer

Einzelforscher*in

hans.martin.kraemer@rub.de
SK

Dr. Stefan Köck

Kooperationspartner

Büro GB 1/140
+49 234 32-26235
stefan.koeck@rub.de
RM

Prof. Dr. Regine Mathias

Kooperationspartner

Büro GB 1/39
+49 234 32-26255
regine.mathias@rub.de