Die Ausbildung des Kollektivsingulars "Religion" im interkulturellen Vergleich
Das hier vorgestellte Projekt fragt nach den Entstehungsbedingungen des allgemeinen Religionsbegriffs in Europa in der frühen Neuzeit und nach seiner Handhabung im Konflikt unterschiedlicher religiöser Kulte. Hierbei sind Kulturkontakte nach außen ebenso zu berücksichtigen wie Abgrenzungskonflikte gegenüber "anderen Religionen" nach innen. Denn zwischen beiden, der missionarischen Bekämpfung außer- wie innereuropäischer Kulte unter dem Konzept einer "falschen" Religion und der Subsumtion ganz unterschiedlicher "religiöser Kulturen" unter das allgemeine Religionskonzept besteht ein enger Zusammenhang. Für eine solche Untersuchung gibt es mehrere relevante disziplinäre Anwendungsfelder: Theologisch wurde der Begriff der "Religion" in der frühen Neuzeit vor allem in den deistischen und pantheistischen Konzeptionen christlicher Theologien reflektiert, philosophisch in der Rezeption der philosophischen Schulen der griechisch-römischen Antike, juristisch im römischen Staats- und Privatrecht, staatspolitisch im Aufbau eigenständiger kirchlicher Institutionen, historisch in der neuen Disziplin der Kirchengeschichte. Methodisch sollten sich Forschungsprojekte in diesem Themenfeld an der semantischen und Diskursanalyse im Sinne einer umfassenden sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Strukturanalyse orientieren. In ihr werden religiöse Erscheinungen nicht mit Hilfe eines vorgefaßten systematischen Religionsbegriffs, sondern mit Blick auf strukturelle begriffliche Differenzierungen im Bereich der Objektsprachen selbst analysiert. Die Methode setzt also bei der Quellensprache an, aggregiert deren Befunde jedoch unter Einbeziehung gegenwärtiger erkenntnisleitender Interessen zu metasprachlichen Kategorien. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf diskursiven Konfliktlagen, in denen unterschiedliche Religionsbegriffe genutzt oder derselbe Begriff unterschiedlich eingesetzt oder bewertet wird.
Das Projekt verfolgt das Ziel, eine Reihe von grundlegenden Hypothesen zu überprüfen. Es geht von der Beobachtung aus, daß die Entstehung des Kollektivsingulars "Religion" im 18. Jahrhundert mit einer für die neuzeitliche Religiosität Westeuropas charakteristischen semantischen Ambivalenz einhergeht: Nach der einen Seite verweist der Begriff auf eine spezifische Eigenschaft des Menschen, auf eine anthropologische Konstante; nach der anderen eröffnet er aber auch den Vergleich zwischen verschiedenen (positiven) Religionen und damit die Möglichkeit ihrer Koexistenz und Konkurrenz. Dies umschließt einerseits die religionspolitischen Optionen religiöser Toleranz und Intoleranz, andererseits aber auch die Unterscheidung zwischen einem religiösen und einem nicht-religiösen Bereich innerhalb von Natur und Gesellschaft. Beide Unterscheidungen werden in außerchristlichen Kulturen z.T. anders gezogen und sind auch in den europäischen Gesellschaften vor Beginn der Neuzeit z.T. anders gezogen worden. Der Vergleich mit der religiösen Semantik in außerchristlichen Gesellschaften bietet daher die Chance zur Erforschung der konfliktreichen Beziehungen zwischen christlichen und nichtchristlichen, europäischen und außereuropäischen, neuzeitlichen und vorneuzeitlichen "Religionen". Angesichts eines sich rasch wandelnden Felds religiöser Strukturen stehen die genannten Unterscheidungen auch in Europa heute wieder zur Disposition. Religiöse Kulturen überlagern sich wechselseitig, sie fusionieren miteinander, und sie transformieren sich aus staatskirchlichen in private Kulte und Bekenntnisse. All dies stellt die Distinktionskraft des klassischen Religionsbegriffs in Frage und verlangt nach begrifflicher Klärung.