Das Schicksal. Geschichte und Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit
Das menschliche Bedürfnis, im Lauf der Welt und im eigenen Leben den Plan einer höheren Macht verwirklicht zu sehen, um die bedrückend empfundene Unerträglichkeit des Sinnlosen und Unverfügbaren umdeuten zu können, gilt in der kulturkomparativen Forschung als eine Art soziokulturelles Universal. Als Kontingenzbewältigungsstrategie hat von alters her der Glaube an eine persönlich oder unpersönlich gedachte Schicksalsmacht fungiert, der Sinn-, Orientierungs- und Entlastungsfunktionen erfüllte und teilweise in der religionswissenschaftlichen Forschung als Ursprung von Religion überhaupt angesehen wird (so Widengren 1938). Das hier angedachte Projekt versteht sich als begriffshistorische Studie zu dem bislang noch wenig bearbeiteten Begriff des "Schicksals" in der Neuzeit, wobei eng verwandte Begriffe wie "Vorsehung" und "Zufall", die maßgeblich die Stellung des gläubigen Menschen in einer von transzendenten Mächten bestimmten Welt ausloten, in die Untersuchung miteinbezogen werden. Insbesondere zur Bestimmung der Zukünftigkeit und der Handlungsfreiheit des Menschen scheinen sie in religiösen Diskursen fast unvermeidlich und auch fast universal anzutreffen zu sein. Die Begriffe "Schicksal", "Vorsehung" und "Zufall" haben in der Neuzeit einen historischen Wandel durchlaufen, der ihre Bedeutung im Verhältnis zu unterschiedlichen religiösen Kulturen spezifiziert hat und den es nachzuzeichnen gilt: Der Begriff der "Vorsehung", im vormodernen Christentum ein wichtiges Attribut Gottes, ist in der Neuzeit gleichermaßen unter dem Postulat der Freiheit wie dem der Determination menschlichen Handelns theologisch und geschichtsphilosophisch fragwürdig geworden. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Entstehung eines offenen Zukunftshorizonts im 18. Jahrhundert, in dem (religiöse) Vorsehung teilweise durch (rationale) Vorhersage verdrängt wurde. Gleichwohl bewahrte sich die Zukunft einen Rest von Unvorhersehbarkeit und Nichtgestaltbarkeit, der als Gegenstand religiöser Reflexion erhalten blieb. Ihr verdankt der Begriff des "Schicksals" seine Aufwertung seit dem 18. Jahrhundert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erlebte er vor diesem Hintergrund dann eine fortschreitende mythologische Aufladung unter nationalen und nationalistischen Vorzeichen durch die germanistische Altertumsforschung, im Nationalsozialismus schließlich eine weitere Aufwertung zum Schlüsselbegriff der offiziellen politischen Religion. Doch ist er auch heute noch in religiösen Systemen wie der Astrologie und verschiedener Ausformungen der "new age"-Religiosität weiterhin präsent. So fiel dem Begriff vor allem in christentumskritischen Diskursen der Neuzeit stets eine zentrale religionspolitische und -philosophische Bedeutung zu, die eine umfassende begriffshistorische Aufarbeitung als lohnend erscheinen lassen. Methodisch orientiert sich das Forschungsprojekt an der semantischen und Diskursanalyse im Sinne einer umfassenden sozialgeschichtlichen Strukturanalyse. In ihr werden religiöse Erscheinungen nicht mit Hilfe eines vorgefassten systematischen Religionsbegriffs, sondern im Blick auf strukturelle begriffliche Differenzierungen im Objektbereich selbst analysiert. Die Methode setzt also bei der Quellensprache an, aggregiert deren Befunde jedoch unter Einbeziehung gegenwärtiger erkenntsleitender Interessen zu metasprachlichen Kategorien.
Das Projekt setzt sich zum Ziel, die Verwendung und Funktion des religiösen Grundbegriffs "Schicksal" und seiner Parallel- und Gegenbegriffe in der Neuzeit zu erhellen, um damit Strukturen neuzeitlicher Religiosität sichtbar zu machen, die mit dem Begriff der "Religion" allein nicht gefasst werden können. Hierzu gehört beispielsweise die Relevanz der Schicksalsthematik in Bezug auf die Diskursfelder Freiheit versus Determination, Fatalismus versus Moral und Sittlichkeit, Teleologie versus Kontingenz, unpersönliches Fatum versus persönlicher Gott, individuelles versus kollektives Schicksal, damit auch Inklusion- und Exklusionsmechanismen, Vergangenheits- und Zukunftsentwürfe und vieles mehr. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei einerseits auf spezifischen Konjunkturen des Schicksalsbegriffs, andererseits auf den diskursiven Konfliktlagen, in denen unterschiedliche Schicksalsbegriffe genutzt wurden oder derselbe Begriff unterschiedliche Verwendungen und Bewertungen erfuhr. Hierbei sollen gleichfalls Adaptions- bzw. Abgrenzungsprozesse gegenüber Schicksalsbegriffen anderer religiöser Kulturen in den Blick genommen werden, um herauszufinden, inwieweit diese auf rezeptiver Ebene in die Etablierung abendländisch-christlicher Schicksalskonzeptionen eingeflossen sind. Insbesondere in Hinblick auf den in den deutschsprachigen Quellen universal anzutreffenden islamischen Fatalismusbegriff dürften sich interessante und neuartige Perspektiven des interreligiösen Kulturkontaktes zwischen Europa und Asien ergeben.