Ein Ort für sich allein
Pilgerschaft und Territorialansprüche in der russischen Uralregion
In einem multikulturellen Umfeld und besonders unter Bedingungen imperialer Herrschaft birgt Pilgerschaft die Möglichkeit für Individuen und Gruppen in sich, Raum neu zu erleben und zu bestimmen. In einem solchen Fall hat Pilgerschaft eine innere und äußere Wirkung und trägt dazu bei, die Menschen, die sich durch die Landschaft bewegen, jedoch auch den Grund und Boden, neu zu modulieren.
Heutzutage geht die Tendenz dahin, Muslime in den russischen Medien als fremde „Andere“ darzustellen, auch wenn es das Russische Reich war, das sich nach Süden ausbreitete, um die multi-ethnischen Bevölkerungen der Wolga- und Uralregionen in sich aufzunehmen. In einem hauptsächlich christlich-orthodoxen Umfeld, das Muslimen einen Minderheitenstatus zuweist, bewirkt die Pilgerschaft um die fast ausschließlich tatarische bzw. baschkirische Ortschaft von Barda im Süden des Permer Krai eine radikale Umdeutung des Raumes.
Um den Forschungsteilnehmern gerecht zu werden, mag dieses Projekt als ein Versuch betrachtet werden, unsere grundlegenden Annahmen über die Beziehung zwischen der Welt und dem menschlichen Subjekt zu dekolonisieren. Von daher wird hier auf die Epistemologie als Standard der Analyse verzichtet. Barda befindet sich in einem Tal, das von sieben Bergen umgeben ist, die einst als Aussichtsposten für Wächter dienten, welche im Laufe der Zeit den Status von Heiligen erlangten. Wenn die Pilger an Grabstätten, Quellen und Berghängen ihren Respekt zollen, werden die ursprünglichen Pfade der Pilgerschaft freigeschaltet, baraka (eine spirituelle Energie) beginnt zu fließen, die Landschaften der Toten erwachen zum Leben und ein peripherer Teil Russlands verwandelt sich in eine mythische Umgebung von zentraler Bedeutung, in denen alte Weise und Krieger beheimatet sind. Das Neuerwachen des Landes geht einher mit räumlichen Anspruchsforderungen, die mit religiösen, lokalen, ethnischen bzw. nationalen Identitäten verbunden sind. Abgesehen von den Pilgerstätten selbst, haben aufgezeichnete Predigten, Fotos, Duftstoffe und gesegnete Süßigkeiten Anteil daran, der Erfahrung eine religiöse Dimension zu verleihen.